Ein Poller im Neuen Hafen

Küstenmeere im Stress

30.07.2021 Die Folgen des Klimawandels in Küstengebieten sind vielfältig und brauchen komplexe Computermodelle

Viele Meere vor den Küsten der Welt stehen massiv unter Druck. Der Klimawandel verändert ganze Ökosysteme in Küsten- und Schelfmeeren, dazu kommen weitere Stressfaktoren wie Überdüngung und Überfischung. All diese negativen Einflüsse wirken zusammen und verstärken sich oft gegenseitig. Darunter kann die Funktionsfähigkeit und Leistungskraft dieser für die Menschheit so wichtigen Lebensräume leiden, warnt ein Forschungsteam des Alfred-Wegener-Instituts im Fachjournal Frontiers in Marine Science. Um solche kritischen Entwicklungen besser zu verstehen und womöglich aufzuhalten, brauche man komplexere und flexiblere Computermodelle als bisher.

Ohne die Küstenmeere sähe der Speisezettel vieler Menschen deutlich ärmer aus. Immerhin liefern diese hochproduktiven Gewässer weltweit etwa 80 Prozent aller wild gefangenen Fische und Meeresfrüchte. Muscheln betätigen sich zudem als lebende Wasserfilter; winzige Algen, die als sogenanntes Phytoplankton im Wasser schweben, als Sauerstoffproduzenten. Und so gibt es noch eine ganze Reihe weiterer unersetzlicher Dienstleistungen, die diese Ökosysteme erbringen. Zumindest solange sie noch richtig funktionieren. Entsprechend haben die Vereinten Nationen den Schutz und die nachhaltige Nutzung der Meere in die Liste ihrer 17 globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals – SDGs) aufgenommen.

Wie aber lässt sich dieses Ziel in Zeiten des Klimawandels erreichen? „Das ist im Detail gar nicht so leicht zu beantworten“, sagt Dr. Sabine Horn, die sich am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) mit der Modellierung von Küstenökosystemen beschäftigt. Das Problem ist, dass der Klimawandel die verschiedensten Facetten des Ökosystems gleichzeitig beeinflusst. Und jede dadurch ausgelöste Veränderung kann eine ganze Palette von weiteren Folgen nach sich ziehen. Das alles müsste man im Auge behalten, um die heutigen Küstenmeere einem umfassenden Gesundheitscheck zu unterziehen und verlässliche Prognosen für ihre Zukunft abgeben zu können.

Wie komplex diese Aufgabe ist, hat Sabine Horn bei der Arbeit an der neuen Studie festgestellt. Zusammen mit weiteren AWI-Küstenfachleuten um Prof. Dr. Karen Wiltshire, PD Dr. Cédric Meunier und Dr. Vera Fofonova hat sie zunächst das bisherige Wissen zusammengetragen: Welche konkreten Auswirkungen hat der Klimawandel auf verschiedene Gruppen von Küstenlebewesen? Tatsächlich gibt es schon eine ganze Reihe von Indizien dafür, wie stark sich deren Welt verändert hat: Neue Arten tauchen auf, angestammte Bewohner verschwinden oder wandern in kühlere Regionen ab.

So zeigen Langzeitbeobachtungen in der Nordsee und im Nordatlantik, dass sich die Bestände des Phytoplanktons in wärmeren Gebieten sehr verändern. Die höheren Temperaturen beeinflussen die Verbreitung, das Wachstum und die Blütezeit vieler Arten.

Das alles hat weitreichende Folgen. Zum Beispiel für die Heerscharen von winzigen Tierchen, die vom Phytoplankton leben. Machen sich die Algen rar oder entwickeln sie sich zur falschen Zeit, findet dieses Zooplankton nicht genug zu fressen. Und damit hungern auch viele Fischlarven, die sich auf diese Beute spezialisiert haben. Zu spüren bekommt das zum Beispiel der Kabeljau in der Nordsee, dessen Nachwuchs sich vor allem von Ruderfußkrebsen der Gattung Calanusernährt. Seit das Wasser wärmer geworden ist, dominiert jedoch eine Calanus-Art, die ihre größten Dichten im Spätsommer und Herbst statt im Frühjahr erreicht. Damit fehlt es den Larven und Jungfischen des Kabeljaus an Beute.

Doch Nahrungsmangel ist für viele Meeresbewohner nicht das einzige Problem, das der Klimawandel mit sich bringt. Immer häufiger führt er auch zu extrem heißen Sommern, zu Sauerstoffmangel im Wasser und giftigen Algenblüten – alles Faktoren, die bei Fischen und Muscheln zu einer höheren Todesrate führen können. Schnecken und Muscheln haben zudem auch noch Schwierigkeiten, ihre Schalen zu bilden, wenn der pH-Wert des Wassers durch gelöstes Kohlendioxid sinkt und die Ozeane somit versauern.

„Mit Computermodellen können wir solche Prozesse bisher nur teilweise simulieren“, sagt Sabine Horn. So lässt sich zum Beispiel durchaus berechnen, wie das Plankton in einer Region auf veränderte Nährstoffverhältnisse reagiert. Was das dann aber für die Fische bedeutet und wie deren Bestandsentwicklung wieder auf das Plankton zurückwirkt, hat der Computer in der Regel nur bedingt auf dem Schirm. Geschweige denn, dass er neben dem Nährstoffangebot auch noch all die anderen Umweltfaktoren von der Temperatur des Wassers über den pH-Wert bis zum Salzgehalt berücksichtigen könnte. So bleibt das virtuelle Bild von den Küstenmeeren und ihrer Zukunft ziemlich eindimensional.

Die AWI-Fachleute plädieren deshalb dafür, physikalische und biologische Modelle dynamisch miteinander zu koppeln. „Das wird eine große Herausforderung“, betont Sabine Horn. Zu bewältigen sei diese nur mit dem geballten Fachwissen aus unterschiedlichen Forschungsdisziplinen von der Ökologie bis zur Mathematik. „Wir sind aber sicher, dass sich die Mühe lohnen wird.“

Denn ein solches Modell könnte verfolgen, wie sich die verschiedensten Umweltfaktoren im Zuge des Klimawandels verändern und welche Konsequenzen das für unterschiedliche Gruppen von Meeresbewohnern hat – quer durch die komplexen Nahrungsnetze hindurch, in denen all diese Organismen miteinander verknüpft sind. „Wir könnten sogar durchspielen, welche Effekte Managementmaßnahmen wie das Einrichten von Schutzgebieten oder das Reduzieren des Nährstoffeintrags hätten“, sagt Sabine Horn. Auf dem Computerbildschirm würden dann verschiedene Szenarien von der Zukunft der Küstengewässer visualisiert. Mit einem Drehbuch, das auf harten wissenschaftlichen Fakten beruht und aufzeigt, welche Optionen die Gesellschaft hat.

Weitere Informationen unter: www.awi.de

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